Dienstag, 10. Juni 2014

Bulimie-Lernen

Die Bildungs-Hochstapler: Viel dümmer, als sie glauben


Weniger wäre mehr. Thomas Städler führt ein engagiertes Plädoyer für eine radikale Abkehr vom unerreichbaren Bildungsideal an deutschen Schulen.
Über 13.000 Stunden ihres Lebens verbringen Gymnasiasten hierzulande auf der Schulbank, hinzu kommen noch einmal geschätzte 7000 Stunden an Hausaufgaben und anderen schulischen Verpflichtungen. Vielfach damit verbunden sind Prüfungsstress, Dauerbelastung und hohe Frustration bei Schülern, Eltern und Lehrern.
Doch was ist das Resultat dieses gewaltigen Aufwandes an Steuermitteln, Zeit und Mühen? Welche Bildungserfolge erreicht überhaupt das deutsche Schulsystem, die zentrale Sozialisationsinstanz einer schrumpfenden Nation, die außer Wissen keine strategische Ressource aufweisen kann?
Folgt man dem Psychologen und Bildungsforscher Thomas Städtler, ist das Ergebnis jahrlanger Bildungsanstrengungen an deutschen Schulen trotz pausenloser Reform-ansätze ernüchternd und deprimierend. Allenfalls eine leicht verbesserte allgemeine Sprach und Denkfähigkeit ließe sich konstatieren. Die zentrale These seines Buches über die deutsche Bildungsmisere lautet daher: Vor der Herstellung eines garantierten Bildungsminimums für alle versage die Schule kläglich. „Die absurde Idee, aus normalen Kindern und Jugendlichen wahrhaftige geistige Giganten zu machen, die, wenn sie alle gymnasialen Lernziele erreichten, eine Allgemeinbildung besäßen, um die sie ein Leibnitz oder Humboldt beneidet hätte, schlägt ins Gegenteil um.“ Von den theoretisch über-frachteten Lehrplänen deutscher Schulbehörden bleibt bei den später im Berufsleben stehenden Erwachsenen nur ein verschwindend geringer Teil übrig.
Städler schätzt das nachhaltige Wissensresiduum im Durchschnitt sogar nur auf höchstens 1 Prozent des Lernstoffes und erläutert sein alarmierendes Resümee: „Man mag darüber streiten, ob meine 1 Prozent-Hypothese zutrifft, wer Wissensfetzen, meist holprig formulierte einzelne Schlagwörter und weitgehend leere Phrasen als Wissen bezeichnen will, mag auch von 5 Prozent verbleibenden Stoffes ausgehen.“
Zur Untermauerung seiner provozierenden These kann der Verfasser auf eine Fülle von Tests mit Erwachsenen und Erwerbstätigen verweisen, deren Resultate er mit dem Satz kommentiert: „Um eine Versagensquote bis zu 90 Prozent zu erreichen, genügt elementarer Hauptschulstoff.“ Wiche man auch noch von der üblicherweise praktizierten Multiple Choice -Methode ab, ergäbe sich etwa für den gesamten Gymnasialstoff von der 5. bis zur 12/13. Klasse ein noch verheerenderes Ergebnis. Würde man, so Städler, ehe-maligen Gymnasiasten die Fragen so konkret stellen, dass zu ihrer Beantwortung auch ein „wenig Verständnis“ notwendig wäre, lägen die Versagensquoten vermutlich bei 95 bis sogar 100 Prozent. Schon bei minimalen Anforderungen ließen sich so maximale Defizite offen legen, erklärt Städler und vergleicht seinen Testansatz, den er Minimax-Prinzip nennt, mit der technischen Prüfung eines Automobiles. Ein Auto, bei dem Bremsen und Motor nicht funktionierten, sei bereits vollkommen „falsifiziert“. Es brauche nicht weiter untersucht zu werden.
Schuld an dem Wissensdesaster sei in erster Linie ein System, das Schüler zwingt, den Schulstoff auf den Prüfungszeitpunkt genau präsent zu haben, um ihn dann sofort wieder zu vergessen. Anders wäre es für die Mehrheit gar nicht möglich, den nächsten Stoff aufzunehmen, der mit dem zuvor durchgenommenen oft gar nichts zu tun hat. Hier ließe sich, so Städler, sogar von Bulimie-Lernen sprechen: Der Lehrstoff wird hastig und schlecht gekaut herunter geschluckt und für die Prüfungen weitgehend unverdaut wieder erbrochen.