Donnerstag, 24. Oktober 2013

Psychiatrie: Viele kleine Gustls

Das Verbrechen an Mollath ist kein Einzelfall

Angenommen, Sie wären von einer zwanghaften Ahnung befallen. Nehmen wir an, in Ihrem Kopf tobte der wirre Glaube, ausländische Regierungen würden Ihre Telefonate belauschen. Diese hätten – so Ihre Vorstellung – sich in die Knotenpunkte aller Kommunikationsnetze eingehängt, wofür sie eigens konstruierte „Horchkugeln“ irgendwo in Bayern, aufgebaut hätten. Weiße, kugelförmige Polyeder, mit Drahtgeflechten umspannt, so würden Sie anderen diese ominösen Erscheinungen beschreiben.

Hätten Sie sich ein paar Jahrzehnte vor der heutigen Zeit mit dieser bizarr anmutenden Geschichte den falschen Leuten anvertraut, so wäre Ihnen womöglich ähnliches widerfahren wie Gustl Mollath. Womöglich hätte man Ihnen ein Medikament verabreicht, Sie zur Ruhe und zum Schweigen gebracht. Gustl Mollath ist auch so ein mutmaßlich Verrückter. Sein Wahn, der sich um Geldwäsche und Korruption drehte, erwies sich aber –ebenso wie die bayrischen Horchkugeln – als wahr.

Widmen wir uns der Topologie, den Untiefen der Mollath’schen Tragödie. Wie kann es kommen, dass ein gesunder Mann, klar im Geist, sieben Jahre lang als gemeingefährlich gebrandmarkt, in der Psychiatrie einsitzt, und dies mit Zwang, von anderen angeordnet und wiederum von anderen vollstreckt?

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Nicht wenigen Psychiatern fehlen Geduld, Zeit und mitunter auch die Lust, sich mit der gebotenen Intensität um ihre Insassen zu bemühen. Die in einstweiligen Anordnungen befindlichen Rechtfertigungen wirken oft oberflächlich und phrasenhaft. Vergleiche mehrerer von ein und demselben Arzt veranlassten Anordnungen fördern immer wieder dieselben Textbausteine zutage. Manche Ärzte scheinen solche Anordnungen wie Gummibärchen auszuteilen.

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Zuletzt – und ich vermute dies als den schwerwiegendsten aller Gründe – werden solche Geschehen sowohl von den Ärzten und Pflegern als auch interessanterweise von vielen Patienten selbst – als sozialadäquat empfunden. „Das haben wir schon immer so gemacht“ „das ist halt so“, „wir fühlen uns dabei auch nicht wohl aber wir müssen das machen“. Beschweren sich Patienten, so lastet man ihnen unterschwellig mimosenhafte Übertreibung an. Ihnen wird schulterzuckend mit mangelndem Ernst begegnet: „Das haben Sie halt so empfunden“. Dies macht klinisches Personal nahezu immun gegen rebellierende Patienten. Ein guter Patient ist nach wie vor jener mit guter „Compliance“. Wer sich fügt, hat seinen Frieden, gesunden wird er kaum.

Wer Gustl Mollath für einen tragischen Einzelfall hält, dürfte darum gewaltigst irren. Einzigartig an Mollaths Widerfahrnis ist einzig seine Dimension. Zudem wusste Mollath, im Gegensatz zu anderen, sich zu widersetzen, und dennoch hätte er beinahe jeden Erfolg missen müssen. Auf kleineren Maßstab skaliert bezeugt der Fall Mollath elementare, strukturelle Mängel der psychiatrischen Zunft. Man darf darum großzügig vermuten, dass es viele kleine Mollaths gibt. Doch diese sind ohne Prominenz und bleiben ohne Hilfe.